Telegram-Papierflieger mit Gras, Netflix-Account und Kinofilmen, symbolisch für den Schwarzmarkt auf Telegram
Icons: Wikipedia | Telegram, Netflix, Spotify || Hintergrund: Pixabay | CCO || Cannabis: Pixabay | CCO || Collage: VICE
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"Wer hat Crystal?": So funktioniert der Schwarzmarkt auf Telegram

VICE-Recherchen zeigen, wie der Messengerdienst zur Darknet-Alternative für Drogen, Filme und geknackte Accounts geworden ist. Obwohl die Polizei jederzeit zuschlagen könnte.

M. hat Ketamin, Koks und MDMA im Angebot. Auf Kunden wartet er ausgerechnet vor einem Regierungsgebäude in einem Berliner Kiez, an dem täglich Tausende Touristen vorbeispazieren. Wie man ihn findet, das verrät er auf Telegram. Auch VICE hat ihn dort entdeckt. "Das Geschäft ist sehr lukrativ", sagt der Dealer und bittet darum, im Artikel anonym zu bleiben, war ja klar.

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"Wer hat Crystal in Schöneberg?", "Coca in Pankow JETZT???", "Suche Mephedron rund um die Warschauer Str" – so in etwa sieht es in einer der geschlossenen Gruppen aus, in denen auf Telegram Drogen verkauft werden.


Auch von VICE: Grasland – Der VICE-Podcast über die Legalisierung von Cannabis


Rund 2.000 Leute sind Mitglied in der Berliner Telegram-Gruppe, in der auch M. seine Kunden findet. Mehr als 100 Nachrichten werden am Tag in die Gruppe verschickt, die meisten sind Gesuche. Einige Mitglieder wie M. verkaufen selbst. Der Dealer sagt, auf Telegram könne er höhere Preise verlangen als im Darknet. Dafür liefert er die Ware für Berliner noch am selben Tag. Wer dringend etwas braucht, chattet ihn einfach an. Ob er keine Angst hat, aufzufliegen? Er verneint. In seine Telegram-Gruppe kämen nur Leute, denen man vertrauen kann.

Viele nutzen Telegram einfach als Alternative zu WhatsApp, ein praktischer Messenger mit Emojis und Stickern. Aber für Leute wie M. ist Telegram mehr als das: Die Chat-App ist in einzelnen Bereichen zur Alternative fürs Darknet geworden, ein von der Öffentlichkeit kaum beachteter Ort für illegale Geschäfte.

Willkommen auf der Alternative zum Darknet: dem Schwarzmarkt von Telegram

Screenshot Telegram Schwarzmarkt für Drogendealer, illegale Filmdownloads und mehr

Dutzende Channels und Gruppen, Hunderte Nachrichten: Telegram als Shopping-App für fragwürdige Angebote | Bild: Screenshot, Telegram

VICE hat recherchiert, wie der verzweigte Schwarzmarkt auf Telegram funktioniert. Die Recherche zeigt: In Dutzenden Channels und Gruppen auf Telegram lassen sich Hunderte offenkundig illegale Angebote finden. Nicht nur Drogendealer preisen hier ihre Waren an. Angeboten werden auch Zugangsdaten zu gehackten Accounts für Netflix, Spotify und Fortnite. In anderen Channels können Nutzer gratis Kinofilme downloaden.

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Für Kunden und Dealer ist die Chat-App besonders praktisch: Der Speicherplatz ist kostenlos, es gibt keine lahmen Websites mit lästigen Pop-ups. Jeder kann anonym Channels eröffnen, Waren anbieten und mit anderen schreiben. In Gruppen chatten alle Mitglieder miteinander, in Channels kann nur der Gründer Nachrichten verfassen und die Abonnenten sind stille Leser. Für die Recherche schalten wir die Notifications am Smartphone ab, denn täglich kommen Hunderte Nachrichten rein, mit Emojis und Bildern beworbene Angebote aus dem Schwarzmarkt von Telegram.

In den Schwarzmarkt vorgedrungen sind wir innerhalb weniger Stunden. Zuerst waren es öffentliche Channels, die sich durch Suchbegriffe in der App finden lassen. Telegram bietet dafür eine interne Suchfunktion. Sie liefert pro Anfrage aber nur drei Ergebnisse. Effektiver lassen sich Channels über spezielle Online-Verzeichnisse oder die Google-Suche finden. Weiter ging es Stück für Stück durch Empfehlungen, die in diesen Channels gepostet wurden. Viele Channels sind miteinander vernetzt und machen gegenseitig Werbung füreinander. Bald sah Telegram nicht mehr aus wie die WhatsApp-Alternative für den freundlichen Chat zwischendurch, sondern wie ein Darknet-Shop im Messenger-Format.

"Besser als Kokstaxi fahren": Wieso Drogendealer auf Telegram setzen

Screenshot Telegram: Dealer werben mit Haschisch

In Berlin werden seit mindestens fünf Jahren Drogen in geschlossenen Telegram-Gruppen angeboten. So lange soll es zumindest schon die älteste von uns entdeckte Gruppe geben, wie Nutzer im Chat erzählen.

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Wer Drogen kaufen möchte, postet sein Gesuch und seinen ungefähren Standort in die Gruppe. Einer der vielen mobilen Dealer Berlins meldet sich dann per privatem Chat bei dem Mitglied und vereinbart ein Treffen. Der Admin der Gruppe gibt sich verschwiegen, als wir ihm schreiben. Nur, wer Probleme mit einem Dealer hat, kann sich an ihn wenden – die betreffende Person werde dann umgehend aus der Gruppe entfernt, berichten Nutzer.

Was macht Koks mit dir und deinem Leben?
Für die Produktion eines TV-Formats für RTL2 zum Thema Kokain wollen wir deine Stimme hören. Ruf einfach unseren Anrufbeantworter an und erzähl, welche Erfahrungen du mit Kokain hast und was es mit dir macht. Bitte lies dir vorher unsere Hinweise dazu durch, wie und in welchem Umfang deine Nachricht von VICE und RTL2 im Rahmen der Produktion genutzt werden kann. Wenn du uns eine Nachricht hinterlässt, erklärst du dich damit einverstanden, dass VICE und RTL2 die Aufzeichnung deiner Nachricht in der dort beschriebenen Form nutzen dürfen. Diese Hinweise zur Nutzung deiner Nachricht und die Telefonnummer findest du hier! (PDF)

Dealer M. vor dem Berliner Verwaltungsgebäude ist mit Telegram sehr zufrieden. Es ist Dienstagnachmittag und er hat gerade wieder Ketamin vertickt. Seine Kunden wissen genau, wo sie ihn finden, kein langes Suchen, keine unsicheren Blicke. "Für mich ist das praktisch, ich muss mich kaum mehr vom Fleck bewegen", sagt er. Gefunden haben wir ihn, weil er seine Dienste selbst mit lustigen Emojis garniert in der Gruppe angeboten hat: "Heute wieder frisches Koks, Keta, XTC aus den Niederlanden!!!" Mit Chatnachrichten wie diesen erreicht er sofort Tausende Leute, die in seiner Nähe etwas suchen. Eine Privatnachricht genügt, und der Dealer verrät, wie man ihn einfach treffen kann.

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Zu einem kleinen Interview erklärt er sich bereit, so lang wir keine weiteren Informationen über seine Person preisgeben. Seit ein paar Monaten erst nutzt er die Telegram-Gruppe zur Kundenakquise. "Ist doch besser als Kokstaxi fahren", sagt er. "Ich kann auch höhere Preise nehmen." Spitzenzeiten gebe es natürlich auch auf Telegram: "Mit Abstand am meisten hab ich am Freitagabend und Sonntagmorgen zu tun", sagt er.

Hat er keine Angst vor der Polizei? "Ach, was", sagt er. "Der Admin lässt eigentlich nur Leute in die Gruppe rein, die es ernst meinen und ich weiß ja auch, wie ein Zivilbulle aussieht." Eine recht naive Einstellung. Denn um in seine Gruppe zu kommen, braucht es nur einen Einladungslink – und wer weiß, ob sie nicht schon längst unterwandert wurde.

Telegram ist nicht der sicherste Messenger auf dem Markt. Die Polizei könnte Gruppen und Channels theoretisch mit technischen Tricks abhören – und tut das auch, wie vergangene VICE-Recherchen belegen konnten.

"Das Phänomen des Drogenhandels über den Messenger-Dienst Telegram ist uns bekannt", sagt der Sprecher der Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität (ZIT) an der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt, Georg Ungefuk. Seine Behörde habe beobachtet, dass der Vertrieb per Chat oft parallel zum Handel über eine Darknet-Plattform laufe, so Ungefuk gegenüber VICE. Auf Telegram könne man wie auch auf anderen verschlüsselten Plattformen nur sehr eingeschränkt ermitteln. Deshalb setzen die ZIT und andere Behörden genauso wie im Darknet auf verdeckte Ermittler.

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VICE wird auch in Zukunft über Telegram berichten. Wenn du Informationen dazu hast, kannst du Theresa und Sebastian per E-Mail erreichen oder verschlüsselt via Signal schreiben +49 152 1012 4551.

Tatsächlich ist Telegram nicht der sicherste Messenger auf dem Markt. Bei WhatsApp ist die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung automatisch aktiv. Bei Telegram muss sie für jeden privaten Chat einzeln aktiviert werden. Gruppen und Channels lassen sich auf Telegram wiederum grundsätzlich nicht Ende-zu-Ende-verschlüsseln. Das heißt, die Polizei könnte sie theoretisch mit technischen Tricks abhören – und tut das auch, wie vergangene VICE-Recherchen belegen konnten.

Nachbau aus einer Prozessmitschrift, wie eine Telegram-Überwachung aussehen könnte

Wenn das BKA Telegram überwacht, könnte das Protokoll in etwa so aussehen | Nachbau aus der Prozessmitschrift | Bild: Sebastian Lipp

Das BKA kann demnach geschlossene Chat-Gruppen auf Telegram mit einem Trick überwachen. Allein im Jahr 2015 hat die Behörde 32 Accounts mit einer Software ausgespäht, die heimlich ein weiteres Gerät registriert und die Nachrichten so abfangen konnte. Im Jahr 2017 hat das BKA das in mindestens neun abgeschlossenen Ermittlungsverfahren getan. Ein Jahr zuvor haben die Ermittler eine Neonazi-Gruppe auf Telegram ausgespäht.

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Für die Dealer in Telegram-Gruppen und -Channels bedeutet das: Sie setzen für illegale Geschäfte auf eine unsichere Plattform. Kunden in Telegram-Drogengruppen müssen darauf hoffen, dass der Dealer daran denkt, den Modus "Privater Chat" beim ersten Kontakt einzuschalten. Warum nur setzen Kunden und Dealer überhaupt auf Telegram?

Ein Grund könnte das positive Image von Telegram sein. Die Firma gilt als verschwiegen. Das in Russland gegründete Unternehmen verrät nicht genau, wo seine Büros und seine Server stehen. Auf Anfragen von Medien und Polizeibehörden reagiert es ausweichend. Telegram-Gründer Pavel Durov ist aus Sorge vor russischen Ermittlern sogar ins Exil gegangen.

Screenshot Telegram: In dieser niederländischen Gruppe von Dealern gibt es Regenbogen-WordArt – und Heroin im Kilo

In dieser niederländischen Gruppe gibt es Regenbogen-WordArt – und Heroin im Kilo | Bild: Screenshot | Telegram

Es sind wohl auch ein paar technische Besonderheiten, die Telegram trotz allem attraktiv machen: Der Kontakt zwischen Kunden und Dealern läuft anonym ab. Im Gegensatz zu WhatsApp sehen einander fremde Nutzer nicht die Telefonnummer des anderen. Die Fotos von den angebotenen Drogen speichert Telegram auf seinen Servern, und wo die stehen, weiß nur Telegram.

Das ist praktisch für Dealer, denn sie müssen für das Marketing ihrer Produkte nicht erst ihren eigenen Webshop aufsetzen, dessen Server-Standort sie verraten könnte – oder eine versteckte Darknet-Website programmieren.

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Offenbar überwiegen diese Vorteile für einige Dealer: Insgesamt haben wir acht lokale Telegram-Gruppen für Drogenhandel gefunden. Gedealt wird nicht nur in Berlin, sondern in mehreren europäischen Großstädten, unter anderem in den Niederlanden und in London. Die Gruppen haben zwischen 120 und 5.500 Mitglieder. In den Chats posten die Händler Bilder von großen Säcken voller Ecstasytabletten und kiloweise Heroin. Die Ware werde allerdings nicht verschickt, sondern mit dem Auto vorbeigebracht, schreiben die Dealer.

Auch mehrere bekannte Namen von Darknet-Händlern tauchen in den Telegram-Gruppen auf – vermutlich kein Zufall. Denn kürzlich hatte die Polizei in den Niederlanden einige große Darknet-Märkte auffliegen lassen. Ob die untergetauchten Dealer aber nun tatsächlich auf Telegram ausweichen oder ob sich Nachahmer ihres Namens bedienen, ist nur schwer zu überprüfen.

Doch selbst wenn sich die eine oder andere Darknet-Größe auf Telegram verirrt haben sollte: Die hyperlokale Telegram-Dealerei, die wir gefunden haben, konkurriert noch lange nicht mit dem systematischen Darknet-Handel, der dank Bitcoin-Zahlungen und Post auch Großkunden weltweit versorgt. Und selbst alle Darknet-Schwarzmärkte zusammen machen nur einen Bruchteil des europaweiten Drogenumschlags aus: Geschätzt 28 Milliarden Dollar setzt der klassische Drogenhandel ohne Internet jährlich um. Zum Vergleich: Auf dem bis zu seiner Abschaltung größten Darknet-Schwarzmarkt Wall Street Market wurden im Jahr nur rund 40 Millionen Euro umgesetzt.

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Werden nach der jüngsten Unruhe im Darknet also ausgerechnet unsichere Messenger zum nächsten großen Schauplatz der Online-Kriminalität? Mehrere Berichte von Sicherheitsforschern legen das nahe. Sie ziehen einen direkten Zusammenhang zwischen dem Ende großer Darknet-Marktplätze und dem stetigen Zulauf in Telegram-Gruppen. Neben Drogen werden dort aber auch andere illegale Waren angeboten werden – wie zum Beispiel Filme.

"Wen interessiert schon Copyright?": Kinofilme zu verschenken

Screenshot Telegram: Einer von Hunderten Kinofilmen, die per Telegram zum direkten Download angeboten werden – sogar mit ein paar Infos aus der Filmdatenbank IMDb

Einer von Hunderten Kinofilmen, die per Telegram zum direkten Download angeboten werden – sogar mit ein paar Infos aus der Filmdatenbank IMDb | Bild: Screenshot | Telegram

Für die Filmbörsen von Telegram brauchen Kunden kein Geld, die Kinofilme werden verschenkt. Ein Fingertipp reicht aus, um eine Filmdatei aus dem Telegram-Channel direkt runterzuladen. Kein Vergleich zu zwielichtigen Streaming-Websites mit kaputten Links, Werbebannern und ruckeligen Playern. Den nötigen Speicherplatz bietet Telegram kostenlos an, solange eine einzelne Datei nicht größer ist als 1,5 Gigabyte. Für einen Kinofilm reicht das locker. Beste Bedingungen für eine Gratis-Filmbörse.

Ganz klar, wer diese urheberrechtlich geschützten Filme teilt und herunterlädt, kann sich in Deutschland strafbar machen. Doch die Filmfans auf Telegram scheint das nicht zu jucken. VICE hat innerhalb weniger Minuten mindestens 20 Channels mit mal 6.100, mal 1,5 Millionen Abonnenten finden können. Die Filme werden vorwiegend auf Hindi oder Englisch angeboten. Auf dem Channel mit 1,5 Millionen Abonnenten erscheint fast täglich ein Film zum Download. Häufig sind es neue Blockbuster wie Captain Marvel und Detektiv Pikachu, aber auch Klassiker wie Scary Movie. Über geklaute Filme auf Telegram hat im Jahr 2018 erstmals The Outline berichtet. Aber warum verschenken Menschen überhaupt Filme auf Telegram?

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Wir fragen einen Nutzer, der bei 17 Telegram-Channels als Admin verzeichnet ist. Auf Telegram hat er den Namen eines bekannten Superhelden, möchte aber nicht, dass dieser Name öffentlich wird. Nennen wir ihn also Daredevil. Zusammengerechnet haben seine Kanäle rund 6,5 Millionen Abonnenten. Wie viele davon Fake-Accounts sind, lässt sich nicht feststellen. Daredevil stellt sich als Student aus Indien vor – und will einen Weg gefunden haben, aus den Gratis-Filmen Profit zu schlagen. "Ich habe nicht damit angefangen, um Geld zu verdienen", schreibt Daredevil. Mittlerweile tut er das aber.

Monatlich nehme er rund 100.000 Rupien ein, umgerechnet etwa 1.300 Euro. Ob die Summen stimmen, lässt sich nicht überprüfen. Zumindest sein Geschäftsmodell klingt schlüssig: Das Geld komme von anderen Telegram-Nutzern, die ihre Channels bei ihm promoten, um selbst Abonnenten zu gewinnen. Tatsächlich gibt es auf den Film-Channels des Studenten Werbeposts, die auf die Kanäle anderer Betreiber verlinken. Offenbar ist auf dem Schwarzmarkt von Telegram auch ein Schwarzmarkt für Werbeanzeigen entstanden. Bekommt die Filmindustrie das überhaupt mit?

Schwer vorstellbar, dass Telegram nichts davon mitbekommt, wenn Channels mit Tausenden Filmdateien Hunderttausende Abonnenten sammeln.

Ja, ab und zu bekäme er Copyright-Beschwerden, sagt Daredevil. Mehr als 100 Filme habe er deshalb bereits entfernen müssen, einmal sei sogar einer seiner Channels gelöscht worden. Aber das hält ihn nicht auf. "Menschen in Indien lieben kostenlose Filme und finden meine Kanäle", schreibt er. Viele könnten sich die Filme auf legalem Weg nicht leisten. Wir haben mehrere große US-Filmstudios gefragt, ob ihnen bekannt ist, dass ihre Filme gratis auf Telegram verbreitet werden. Wenn wir eine Antwort erhalten, werden wir diesen Artikel updaten.

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Ein anderer Filme-Channel auf Telegram mit rund 100.000 Abonnenten kommt ganz ohne Werbeanzeigen aus. Im Gespräch mit VICE erklärt der Betreiber, dass er mit Telegram kein Geld verdienen möchte. "Filme hochladen ist wie ein Hobby für mich", schreibt er auf Englisch. Er sei im Jahr 2013 aus Syrien in den Irak geflohen und arbeite nun für eine Autofirma. Am Anfang habe er die Filme für seine syrischen Freunde gepostet, um sie nach ihrer Flucht mit englischsprachigen Filmen und Serien zu versorgen. Jetzt habe er Spaß daran, Zehntausenden Leuten einen Gefallen zu tun. Ein moderner Robin Hood also. Aber ist die Geschichte wahr?

Schwer zu sagen. Fakt ist: Der älteste Post auf dem Channel stammt von Anfang 2016, und der damals illegal hochgeladene Film ist noch immer verfügbar. Insgesamt gibt es auf dem Kanal mehr als 650 Filme. Macht man sich da keine Sorgen vor der Polizei? "Wer kümmert sich hier um Copyright?", fragt er. Noch habe sich niemand bei ihm beschwert. Und wenn Telegram eines Tages seinen Kanal sperre, würde er seinen Freunden die Filme eben persönlich schicken.

Schwer vorstellbar, dass Telegram nichts davon mitbekommt, wenn Channels mit Tausenden Filmdateien Hunderttausende Abonnenten sammeln. VICE hat Telegram danach gefragt – und keine Antwort erhalten. Während Nutzer wie Daredevil fleißig Filme verschenken, versuchen andere Telegram-Dealer aus der Nachfrage nach Unterhaltung Profit zu schlagen.

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Spotify, Netflix, 'Fortnite': Auf dem Basar für geknackte Accounts

Telegram Screenshot: Hier bietet ein Telegram-Dealer zwanzig Zugangsdaten zu Spotify Premium an, akkurat aufgelistet mit Infos zu Herkunftsland, Kontotyp, Laufzeit

Hier bietet ein Telegram-Dealer zwanzig Zugangsdaten zu Spotify Premium an, akkurat aufgelistet mit Infos zu Herkunftsland, Kontotyp, Laufzeit | Foto: Screenshot | Telegram

Das größte Netzwerk aus Channels und Gruppen, das wir entdecken konnten, ist ein Basar für gleich mehrere Produkte. Von Drogen oder geklauten Kinofilmen ist hier nichts zu sehen. Im Angebot sind Likes, Views und Follower für Instagram, Facebook, YouTube und TikTok. Andere Dealer bieten an, ihren Kunden gegen Geld einen blauen Haken auf Instagram zu verschaffen, das begehrte Zeichen für einen verifizierten Account. Bezahlung? PayPal.

Angepriesen werden auch Zugangsdaten, also Nutzernamen und Passwörter, für kostenpflichtige Angebote wie Netflix, Hulu und Spotify Premium. Dahinter stecken oft reale Nutzer, die nicht ahnen, dass irgendwo auf der Welt noch jemand anderes ihren Account benutzt. Für ein paar Dollar können Kunden also heimlich auf Kosten einer gehackten Person Netflix streamen und Spotify hören. Ratsam ist das aber nicht, denn wer das tut, könnte gleich mehrere Straftaten begehen – zum Beispiel Betrug und Datenhehlerei.

Der Telegram-Schwarzmarkt ist weniger sicher als das Darknet

Für Betrug drohen laut Strafgesetzbuch bis zu fünf Jahre Gefängnis oder eine Geldstrafe; für Datenhehlerei sind es zu drei Jahre. "Wenn die Täter sich in der europäischen Union befinden, ist eine Verurteilung möglich", schätzt Rechtsanwältin Beata-Konstanze Hubrig, die sich auf Internetrecht spezialisiert hat.

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Aber: Keiner kann garantieren, dass Käufer auf Telegram wirklich etwas bekommen, wenn sie etwas bezahlen. Gerissene Händler behalten einfach das Geld und tun nichts. Selbst das Darknet ist da transparenter. Dort haben Shops ein Bewertungssystem, ähnlich wie bei Amazon, wo Nutzer nach dem Kauf eine Rezension verfassen dürfen. So reguliert der Schwarzmarkt im Darknet sich selbst und Käufer müssen einem Dealer nicht blind vertrauen. Bei Telegram läuft das anders.

"Sei vorsichtig, hier gibt es Scammer", warnt uns auch der Betreiber eines Telegram-Channels, auf dem illegal Zugangsdaten angeboten werden. Seinen Telegram-Namen möchte er nicht in einem VICE-Artikel sehen, deshalb nennen wir ihn Rashid. Rashid erklärt, wir sollten auf Telegram nie ohne einen Mittelsmann einkaufen. Nur der könne uns sagen, welche Angebote vertrauenswürdig sind. Und natürlich sei er, Rashid, ein solcher Mittelsmann.

"Ich will doch nicht als Idiot enden, der im Darknet Drogen verkauft", sagt ein Mittelsmann. Telegram finde er "sauberer".

Wir fragen Rashid, wie man Schwarzmarkt-Channels am besten findet, schließlich liefert die Suchfunktion von Telegram nur wenige Ergebnisse. Rashid erklärt, dass Telegram-Nutzer untereinander Listen mit den wichtigsten Infos tauschen. Wenige Sekunden später schickt er uns so eine Liste: Sie beinhaltet 115 Telegram-Channels und -Gruppen, in denen es nur so wimmelt von Angeboten mit Likes, Views und offenbar gekaperten Accounts. Auch einige selbsternannte Mittelsmänner sind dort unterwegs, sie geben sich mit dem Kürzel "MM" zu erkennen. Später wird uns ein solcher "MM" ebenfalls eine solche Liste anbieten, allerdings für 25 Dollar. Nein, danke.

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Das System mit den Listen erinnert an das Darknet. Ähnlich wie Telegram-Channels lassen sich nämlich auch Darknet-Websites nicht einfach mit einer Suchmaschine finden. Also zirkulieren Listen mit Links zu Darknet-Websites. Warum macht Rashid nicht gleich im Darknet Geschäfte? "Ich will doch nicht als Idiot enden, der im Darknet Drogen verkauft!", sagt er. Telegram finde er "sauberer". Aber ins gewöhnliche Internet möchte er auch nicht. "Websites musst du bezahlen, du musst Suchmaschinenoptimierung betreiben", sagt Rashid. Telegram sei kostenlos. Lohnt sich das Geschäft für ihn?

Reich werde man nicht. Zwei Jahre lang sei Rashid schon auf Telegram aktiv, jetzt sei er 19 Jahre alt. Er lebe im Nahen Osten und spare das verdiente Geld, um sich später mit Online-Handel selbstständig zu machen. Rashid gehört damit schon zu den älteren Händlern auf Telegram. Ein anderer Händler erzählt uns, er sei 14 und lebe bei seinen Eltern in Dubai. Die Eltern wüssten von seinem Handel mit Accounts und seien "cool damit".

Ein Jahr Netflix wird für umgerechnet 18 Euro angeboten.

Einige Händler verschenken sogar erbeutete Zugangsdaten und posten sie offen im Telegram-Chat. VICE konnte innerhalb von Sekunden Dutzende Kombinationen aus Nutzernamen und Passwörtern für Netflix-, Fortnite- und Spotify-Accounts finden. Die offen geposteten Zugangsdaten sind wohl als Appetizer zu verstehen. Interessierte Kunden können auf diese Weise herausfinden, dass sie damit wirklich in einen fremden Account eindringen können. Häufig aber bemerken es Plattformen wie Netflix, wenn plötzlich massenhaft Nutzer auf ein und denselben Account zugreifen, und sperren das betroffene Konto.

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Händler wie Rashid locken damit, dass ihre kostenpflichtigen Zugangsdaten wirklich lange halten. Für drei Dollar will Rashid zum Beispiel mindestens drei Monate Hulu-Premium garantieren. Auf legalem Weg müssten Kunden das Sechsfache zahlen. Sein 14-jähriger Konkurrent aus Dubai bietet ein Jahr Netflix für umgerechnet 18 Euro; ein legaler Zugang würde rund 96 Euro kosten. Wie kommen die Dealer bloß an all die Zugangsdaten?


Ebenfalls auf VICE: Wie das Cannabisverbot in Großbritannien versagt


"Ich kaufe sie billig ein", sagt Rashid. Mehr will er aber nicht verraten. Vergangene Recherchen, unter anderem von VICE, zeichnen aber ein genaueres Bild. Online-Kriminelle gewinnen Zugangsdaten zum Beispiel durch Phishing-Attacken. Außerdem probieren sie Daten aus öffentlichen Passwort-Leaks durch. Oft genug nutzen Menschen Passwörter mehrfach, und so stecken in alten Datenleaks häufig auch Daten für aktuelle Plattformen. Mit der Zeit lassen sich auf diese Weise Tausende Zugänge für Netflix und andere Plattformen sammeln – und an Kunden wie Rashid verkaufen.

VICE hat Netflix und Spotify gefragt, wie sie gegen den Handel mit Zugangsdaten vorgehen und wie viele Accounts deshalb gesperrt werden. Spotify möchte "dazu momentan kein Kommentar abgeben", teilt ein Sprecher per E-Mail mit. Netflix bestätigt: Ja, die Firma überprüft, ob im Internet Netflix-Zugangsdaten verbreitet werden, geht aber nicht näher auf Telegram ein.

Telegram könnte den Schwarzmarkt eindämmen

Theoretisch könnte Telegram den Schwarzmarkt auf der eigenen Plattform drastisch eindämmen. Zumindest beweist die Firma beim Thema Terrorismus, dass sie auch umfassend Inhalte erfassen und löschen kann: Channels, die sich mit islamistischem Terror befassen, entfernt die Firma nach eigenen Angaben regelmäßig. Ein von Telegram selbst veröffentlichter Bot informiert darüber, wenn neue terroristische Channels geblockt wurden; täglich sind es Hunderte. Im Mai diesen Jahres sollen es rund 8.300 gewesen sein.

Auch wenn es um Pornografie geht, wird Telegram aktiv: So sollen Nutzer von iPhones und iPads Telegram-Channels mit Porn gar nicht erst angezeigt bekommen, wie Telegram-Gründer Pavel Durov im Jahr 2017 auf Twitter bestätigte. Grund dafür seien die strengen Richtlinien von Apple. Das konnten wir selbst testen: Mehrere Telegram-Channels mit Porno-Bildern waren auf unserem Test-iPhone nicht verfügbar, am Laptop aber schon. Auch hier zeigt die Firma, dass sie Kanäle effektiv nach Inhalten durchsuchen und blockieren kann.

Um den Schwarzmarkt dagegen macht Telegram offenbar einen Bogen. Es scheint, solange Telegram eine weitgehend unbeachtete Nische zwischen Darknet und Internet bleibt, werden Leute wie Daredevil, Rashid und der Dealer im Berliner Partyviertel dort weiter ihre Angebote posten.

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